Intelligenz - eine Frage des Alters?
Spätestens mit Eintritt in das Rentenalter gehören Menschen in Deutschland derzeit zum „alten Eisen“. Schon 50-jährige Arbeitssuchende gelten beim Arbeitsamt als „schwer vermittelbar“. Die Gründe, die hierfür angeführt werden, zielen tendenziell immer in die gleiche Richtung: „Sie sind zu alt“; „...nicht mehr flexibel genug“; „... können den Anforderungen körperlich und geistig nicht mehr gerecht werden“. Eine Sache des Alters? Viele ältere Menschen haben sich inzwischen damit abgefunden, dass sie aufgrund eines vermeintlichen Abbaus ihrer kognitiven Fähigkeiten in vielen Belangen nicht mehr ernst genommen werden. Gehen fortschreitendes Alter und Abbau geistiger Kompetenz tatsächlich zwangsläufig Hand in Hand? Entwicklungspsychologen sind dieser Frage nachgegangen - und erhielten erstaunliche Antworten. Die Ambivalenz der Intelligenz Die Psychologie unterscheidet zwei Arten von Intelligenz. Zum einen die so genannte „fluide“ Intelligenz, die definitionsgemäß die Fähigkeit beschreibt, „unbekannte Probleme zu lösen und sich auf neue Situationen einzustellen“. Zum anderen die „kristalline“ Intelligenz, auch Erfahrungswissen genannt - sie ist gekennzeichnet durch die „Fähigkeit, erworbenes Wissen auf Problemlösungen anzuwenden“. Qualitativ besteht zwischen diesen beiden a priori kein Unterschied, die jeweilige bevorzugte Anwendbarkeit korreliert mit der Aufgabenstellung. Während das Erfahrungswissen naturgemäß im Laufe der Zeit zunimmt, konnten empirische Studien belegen, dass die fluide Intelligenz tatsächlich im Alter tendenziell abnimmt. Der Grad des Abbaus ist jedoch nicht determiniert; er hängt primär davon ab, in welchem Maße kognitive Fähigkeiten trainiert werden. Wer nicht trainiert – verliert! Obwohl das menschliche Gehirn natürlich weit mehr ist als etwa ein gewöhnlicher Muskel, muss er doch regelmäßig trainiert werden, um nicht an Kraft zu verlieren. Geistigen Herausforderungen sollte daher auch und vor allem im fortgeschrittenen Alter begegnet werden. Das kontinuierliche Lösen von Denksport- und Gedächtnisaufgaben ist bestens geeignet, um kognitive Ressourcen dauerhaft zu mobilisieren. So ergaben psychologische Studien, dass geistig aktive Menschen älteren Semesters Problemstellungen genauso schnell und effizient bewältigten wie Mittzwanziger. Zwar verfügte die ältere Testgruppe über eine geringere Anzahl von Problemlösungsstrategien, konnte diese jedoch bedeutend effektiver einsetzen, was die Defizite im Bereich der fluiden Intelligenz ausglich. Nicht zuletzt durch derartige Ergebnisse wurde auch in der Pädagogik der Begriff des „lebenslangen Lernens“ geprägt. Dieser Forschungszweig bricht endgültig mit dem Vorurteil, Menschen lernten und entwickelten sich nur bis zu einer bestimmten Altersgrenze. Zudem ermöglichen es medizinischer Fortschritt, gesunde Ernährung und ein steigendes Bewusstsein für die eigene Gesundheit, bis ins hohe Alter körperlich fit und aktiv zu bleiben. Die Rückkehr der Grauen Stars Natürlich kann auch der Arbeitsmarkt diese Erkenntnisse nicht auf Dauer ignorieren. Die aktuelle Entwicklung in den USA zeigt deutlich, dass die klassischen Skills älterer Mitarbeiter – Loyalität, Erfahrung, Interaktionskompetenz und Durchhaltevermögen – gefragter sind denn je. Da es amerikanischen Unternehmen verboten ist, verpflichtende Pensionsalter festzusetzen, ist der dortige Arbeitsmarkt in der Lage, diesen Erkenntnissen Rechnung zu tragen. Während die Hälfte aller EU-Bürger über 55 eine Rente bezieht, steht jeder zweite Amerikaner zwischen 60 und 65 noch mit beiden Beinen im Berufsleben. In der Gruppe der 65- bis 70-Jährigen ist es immerhin noch jeder Dritte. Diese Entwicklung lässt die willkürliche Festlegung des Rentenalters auf 65 in Deutschland tradiert und wenig sinnvoll erscheinen - vor allem wenn man bedenkt, dass ein großer Anteil der Personen, die dieses Land regieren, diese Grenze schon überschritten haben. Völlig absurd ist in diesem Zusammenhang die Forderung diverser Gewerkschaften, das Rentenalter noch weiter herabzusetzen, vergegenwärtigt man sich den immensen Wissensvorrat, der durch solch ein Unterfangen zur Nutzlosigkeit verdammt wird. Angesichts der Überalterung in den westlichen Industriestaaten wird auch in Deutschland ein intensives Umdenken nötig sein, um den Herausforderungen einer sich wandelnden Gesellschaft begegnen zu können. Schließlich wird Eisen nur dann alt, wenn es lange nicht geschmiedet wird.